1.1 Chylomikronämie
Fettstoffwechselstörungen, die Bauchschmerzen bereiten können
Fallbeschreibung
In der Praxis stellt sich ein 34jähriger Patient vor, der klagt, am gestrigen Tag und auch noch im Laufe des heutigen vormittags starke krampfartige Bauchschmerzen gehabt zu haben. Auf Befragen gibt er an, dass er vor zwei Tagen an der Geburtstagsfeier für seinen Vater teilgenommen hatte und sehr viel alkoholische Getränke zu sich genommen und gut und viel gegessen zu haben. Aufgrund der starken Bauchschmerzen hatte er seit gestern nichts mehr gegessen, nur etwas Tee getrunken. Bei der klinischen Untersuchung fand sich ein 34jähriger Patient in gutem Allgemeinzustand, Größe 180 cm, Gewicht 88 kg. Blutdruck 160 / 95 mmHg, Pulsfrequenz 76/Min. Herzaktion regelmäßig, kein Pulsdefizit. Bei der Untersuchung des Abdomens kein wesentlich auffälliger Befund, zum jetzigen Zeitpunkt kein Druckschmerz, nur lebhafte Darmgeräusche auskultierbar. Die sofort durchgeführte Bestimmung der Leukozyten ergab mit 8500 G/l und für die alpha-Amylase mit 180 U/l einen unauffälligen Befund. Nachdem die Beschwerden nicht mehr persistieren, wurde zur weiteren Diagnostik eine Bestimmung der Leberwerte, der Nierenfunktionsfunktion und der Blutfette veranlasst und der Patient für nächsten Morgen wieder einbestellt.
Diagnostik und Befunde
Bei Wiedervorstellung des Patienten konnte ihm eröffnet werden, dass bei ihm eine erhebliche Fettstoffwechselstörung vorliegt. Es zeigte sich eine Triglyceridkonzentration von 4700 mg/dl, das Cholesterin lag bei 1100 mg/dl, HDL-Cholesterin bei 26 mg/dl und LDL-Cholesterin bei 106 mg/dl. Nachdem der Patient bereits 36 Stunden Nahrungskarenz eingehalten hatte, konnte davon ausgegangen werden, dass zum Zeitpunkt der abdominellen Beschwerden die Triglyceridkonzentrationen etwa um das 2,5fache höher gewesen, also mindestens bei 10 000 mg/dl gelegen war. Das konnte daraus geschlossen werden, da bei Nahrungskarenz eine deutlich erhöhte Triglyceridkonzentration sich durchschnittlich pro Tag um 50 % verringert.
Aufgrund der Vorgeschichte und der erhobenen Blutfettbefunde konnte die Diagnose einer Chylomikronämie mit krampfartigen Bauchbeschwerden gestellt werden. Die krampfartigen Bauchbeschwerden sind durch Mikrozirkulations-störungen (aufgrund der sehr hohen Triglyceridkonzentration) im Bereich des Dünndarms zurückzuführen. Auf Befragung gab der Patient weiter an, dass auch bei seinem Vater eine Fettstoffwechselstörung bekannt sei, die aber nichts mit dem Cholesterin zu tun hätte, sondern mit einer anderen Blutfettart. Aufgrund der Angaben konnte geschlossen werden, dass bei dem Patienten eine familiäre Hypertriglceridämie vorliegt, die durch einen Alkohol und Kalorien-Exzeß in eine Chylomikronämie konvertiert war.
Therapie
Zur Vermeidung einer erneuten Exazerbation wurde dem Patienten dringend geraten, erstens sein Gewicht zu normalisieren, weiters auf Alkohol zu verzichten und die Zufuhr rasch resorbierbarer Kohlenhydraten einzuschränken. Diese diätetischen Maßnahmen stehen in der Behandlung der Fettstoffwechselstörung mit erhöhten Triglyceriden eindeutig an erster Stelle, Medikamente sind bei sehr hohen Triglyceridkonzentration selten hinreichend wirksam und können eine Exazerbation aufgrund fehlerhafte Nahrungsexzesse nicht verhindern.
Nach einer Woche stellte sich der Patient unter entsprechender Diät zu einer Kontrolluntersuchung vor. Es zeigten sich folgende Lipidwerte: Serumcholesterin 430 mg/dl, Serumtriglceride 420 mg/dl, HDL-Cholesterin 30 mg/dl, LDL-Cholesterin 302 mg/dl. Diese Befunde würden eigentlich auf das Vorliegen einer gemischten Hyperlipoproteinämie mit Führen einer LDL-Hypercholesterinämie hinweisen. Aus der Vorgeschichte konnte jedoch eindeutig diagnostiziert werden, dass es sich um die Abklingphase einer schweren Hypertriglyceridämie handelt. Die aus der Leber freigesetzten Very low density Lipoproteine (VLDL) werden im Blut über Lipoprotein e intermediärer Dichte (IDL) zu LDL umgewandelt. Daher ist es verständlich, dass in der Abklingphase einer schweren Hypertriglyceridämie das LDL-Cholesterin vorübergehend ansteigt und daher auf keinen Fall die Diagnose einer LDL-Hypercholesterinämie gestellt werden darf. Dies zeigte sich auch bei einer weiteren Kontrolle nach acht Wochen, der Patient hatte inzwischen ein Körpergewicht um 80 kg erreicht, es fanden sich nun eine Triglyceridkonzentration von 230 mg/dl , HDL-Cholesterin von 35 mg/dl und das LDL-Cholesterin lag bei 135 mg/dl. Der Patient ist damit in der Lage mit diätetischen Maßnahmen seine Hypertriglyceridämie sehr gut zu kompensieren.
Diskussion
Wahrscheinlich geht diese Fettstoffwechselstörung, die familiäre Hypertriglyceridämie, mit keinem wesentlich erhöhten kardiovaskulären Risiko einher, in erster Linie geht es in der Therapie um Vermeidung einer akuten Exazerbation mit dem Auftreten einer Chylomikronämie. Diese Chylomikronämie ist besonders gefährlich, da es dadurch zu einem Anstieg der Plasmaviskosität kommt und dadurch unter Umständen eine schwere Pankreatitis ausgelöst werden kann.
Abdomielle Schmerzen können, wie im vorliegenden Fall, auch durch Mikrozirkulationsstörungen im Bereich des Dünndarms oder durch eine Leber- und Milzkapselspannung verursacht werden, da das retikuloendotheliale System versucht, die Chylomikronen durch Phagozytose zu eliminieren. Andere klinische Symptome sind eruptive Xanthome (Abb.1), Parästhesien und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses.
Bei vorbestehener Atherosklerose kann durch die deutliche Viskosität Erhöhung des Blutes z.B. eine Angina pectoris oder auch eine Durchblutungsstörung im Bereich des Gehirns ausgelöst werden. Solche akuten Komplikationen treten ab Triglyceridkonzentrationen von etwa 1000 mg/dl auf, sind aber insgesamt gesehen bei den betroffenen Patienten relativ selten. Die Diagnose kann durch den sogenannten Kühlschranktest gestellt werden, dabei wird das Plasma oder das Blut einige Stunden bei 4° Celsius stehen gelassen, dann rahmen die Chylomikronen ab und die Diagnose kann eindeutig gestellt werden (Abb. 2).
Zu beachten ist, wenn eine Chylomikronämie vorliegt, dass bestimmte Serumparameter falsch niedrig bestimmt werden, da die Chylomikronen einen erheblichen Anteil des wässrigen Anteils des Blutes einnehmen. Pro 1000 mg/dl Triglyceride sind die Werte z.B. für die Elektrolyte, insbesondere Kalium, um 3-5 % nach oben zu korrigieren. Bei dem Patienten würde also eine Kaliumkonzentration von 2,5 mmol/l noch keine Hypokaliämie anzeigen, sondern allenfalls eine grenzwertige Kaliumkonzentration. Es ist darauf hinzuweisen, dass die alpha-Amylase kein guter Parameter zur Diagnostik einer Pankreatitis ist, kommt doch in etwa zwei Drittel der Fälle ein Inhibitor der alpha-Amylase vor.
Man muss also zur Diagnostik der akuten Pankreatitis die Lipase verwenden, oder technische Verfahren. Aus diesem Grunde wurde bei dem Patienten auch die Lipase nachbestimmt und zusätzlich eine Sonographie des Pankreas durchgeführt werden. Beide Befunde waren normal. Auf eine Abdomenleeraufnahme zur Feststellung von Pankreasverkalkungen (mit der Frage ob bereits eine Pankreatits abgelaufen war) wurde verzichtet, da es typischerweise bei durch Hypertriglyceridämie induzierten Pankreatitiden zu keinen Verkalkungen kommt. Dies kann sogar differentialdiagnostisch gegenüber der Alkohol induzierten Pankreatitis eingesetzt werden.
Fazit für die Praxis
Die früher als Typ V Hyperlipoproteinämie bezeichneten erworbenen Chylomikronämien sind keine pathogenetische Einheit, sondern es handelt sich dabei um andere Fettstoffwechselstörungen wie die familiäre Hypertriglyceridämie (wie beim geschilderten Patienten), die familiäre Dysbetalipoproteinämie (früher Typ II Hyperlipoproteinämie nach Fredrickson) oder die familiär kombinierte Hyperlipidämie, die durch Nahrungsexzesse exazerbieren.
Die weitere Prognose liegt in den Händen des Patienten, da sich jeder Ernährungsfehler auf die Triglyceridkonzentration auswirkt. Nach massiver Zufuhr von Alkohol und rasch resorbierbaren Kohlenhydraten ist mit einer Exazerbation der Triglyceride zu rechnen. Eine angepasste Ernährung mit Verzicht auf Alkohol und einfache zuckerhaltige Getränke sowie die Verteilung der Mahlzeiten über den Tag (sechs kleiner Mahlzeiten) helfen in den meisten Fällen, schwere akute Komplikationen zu verhindern.